Neustädter fiel beim Kampf um Berlin
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Das stark beschädigte Berliner Reichstagsgebäude zu Kriegsende. Heute jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus. Beim Kampf um Berlin fiel im Oderbruch damals auch der Neustädter Georg Stamm.
© Quelle: Henry Griffin/AP/dpa
Marburg. „Nous sommes en guerre“, sagte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron über die Corona-Krise, und viele Vergleiche wurden und werden gezogen mit der Zeit des letzten Krieges, der nun 75 Jahre zurückliegt. Erinnerungen werden wach, vor allem bei den ältesten Mitbürgern. So geht es auch dem 94-jährigen Karl Heinrich Stamm, der in Neustadt geboren wurde und in Göttingen seinen Lebensabend verbringt.
Seinem Bruder Georg, Jahrgang 1921, war dieses Glück nicht beschieden. Er war noch nicht einmal 24 Jahre alt, als er fiel: am 27. März 1945 beim Endkampf an der Oder, in sinnloser Aufopferung Tausender meist junger Männer in einem Krieg, der längst entschieden war. Jahrzehnte später, 1984, machten sich zwei ehemalige Kameraden auf in das Oderbruch. Sie wollten die Gegend bei Seelow noch einmal sehen, wo sie als junge Soldaten buchstäblich im Dreck gelegen hatten. Es war ja noch DDR-Zeit, Hotels gab es in der Gegend nicht und man wurde im Privatquartier untergebracht.
Als sie auf dem Friedhof im Dorf Golzow das Grab ihres Kameraden Georg Stamm fanden, stand die Zeit von damals wieder klar vor ihren Augen: wie sie sich zwischen den Kämpfen mit Georg trafen und sich angesichts der drohenden Katastrophe „über ihre verpatzten Jugendjahre“ unterhielten.
Der Bruder des Gefallenen, der inzwischen als Studiendirektor im hessischen Dillenburg lebte, wurde informiert; bewegt schrieb dieser zurück, es sei ihm, als habe er seinen Bruder zum zweiten Mal verloren. Und er holte die Feldpostbriefe hervor, die die Familie sorgsam aufbewahrt hatte und die einen tiefen Einblick in das Schicksal einer ganzen Generation gewähren.
Der aus Schweinsberg stammende Eisenbahner August Stamm begann seine Laufbahn in der katholischen Kleinstadt Neustadt/Hessen. Bis zu seiner Versetzung nach Göttingen lebte er dort mit seiner Frau Berta und den Söhnen Georg, geb. 1921, und Karl Heinrich, geb. 1926. Da es nur wenige Protestanten in Neustadt gab, wurden die Kinder in der dortigen kleinen reformierten Gemeinde getauft. Georg wurde mit sechs Jahren in Neustadt eingeschult und erhielt vom Lehrer Hinn die erste schulische Unterweisung. Später, in Göttingen, erlaubte es das zwar nicht üppige, aber sichere Einkommen des Eisenbahners, dass Georg Geigenstunden erhielt. Wohl unter dem Einfluss seines Musiklehrers, der den Göttinger Spielmannszug führte, trat der musikbegabte Schüler 1933 in das Jungvolk und später in die HJ ein.
Georg wollte Ingenieur werden
Nach bestandenem Abitur war sein Wunsch, Ingenieurwissenschaften zu studieren und in den Höheren Dienst bei der Reichsbahn einzutreten. Doch zuvor war der seit 1935 verpflichtende Arbeitsdienst fällig: Drainage- und Erdarbeiten beim Bau eines Stichkanals bei Salzgitter mussten geleistet werden. War der Arbeitsdienst schon von militärischem Drill geprägt, so führte der Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 zu weiteren Einsätzen am „Westwall“ bei Bitburg in der Eifel. Eine Blutvergiftung infolge wundgelaufener Füße war der Grund, weshalb der junge Mann nicht, wie seine Jahrgangskameraden, gleich zur Wehrmacht eingezogen wurde, sondern sich im Herbst 1940 an der Technischen Hochschule Hannover immatrikulieren konnte.
Aber schon nach einem Semester, im Februar 1941, kam die Einberufung zur Wehrmacht, Georg wurde einer Artillerieabteilung in Dessau zugeteilt. Im Rahmen eines Offizierslehrgangs war äußerster körperlicher Einsatz gefragt, man wollte die jungen Soldaten etwa durch „Geschützschieben“ zu Ausdauer und Zähigkeit erziehen.
Dem „kleinen“ Bruder berichtete er über seine Erfahrungen und riet ihm, sich auf keinen Fall für die SS oder gar die Waffen-SS gewinnen zu lassen. Im Juni 1941 hatte der Russlandfeldzug begonnen und bereits einen Monat später wurde Georg an die Ostfront, nach Bialystock, versetzt.
Georg muss nach Weißrussland
Sogleich besorgte er sich einen russischen Sprachführer und trat die Reise nach Weißrussland an. Zunächst sah er kaum Spuren von Kämpfen: „Zerschossene Dörfer sieht man selten“, schreibt er und findet, „so etwas Trostloses wie Rußland ... so etwas Ödes gibt es nicht wieder“. Außerdem sei es „saukalt hier … Lieber zweimal nach Afrika als einmal Rußland“. Auf dem weiteren Vormarsch nach Norden sieht er allerdings Ruinen, die Städte seien „fast ausnahmslos vollständig niedergebrannt und zerstört“.
Nun ging es in Richtung Leningrad, wo auch der Widerstand der Sowjets bemerkbar wurde: „Gestern morgen griff der Russe wieder an, man hörte das ‚Urräh‘ bis in unsere Stellung.“ Ungemütlich wurde vor allem das Wetter: „Nachts haben wir sternklaren Himmel und Frost und am Tage regnet es.“
Später wird über Wege geklagt, die „bessere Schlammlöcher“ seien, in die man kniehoch einsinke, und immer wieder Schnee und Frost – wohlgemerkt im Oktober! Da dachte man noch, die Einnahme Leningrads stünde kurz bevor, doch der Vormarsch stockte. Georgs Einheit bezog Stellung bei Nowgorod: „Es muß einmal eine sehr schöne Stadt gewesen sein mit breiten Straßen, vielen Kirchen und weißen Häusern“; allerdings sei kaum noch ein heiles Haus zu finden. Am 17. Oktober 1941 berichtet er über einen erfolgreichen Großangriff bei Tschudowo, der viele russische Gefangene brachte und die Hoffnung, dass „der Schlamassel hier bald vorbei“ sei. Wie gerne hätte er weiterstudiert.
Georg schrieb 230 Feldpostbriefe
Doch es kam anders. Abgesehen von Schulungen und Lazarettaufenthalten etwa in Dresden, Stuttgart oder Hagenau im Elsass kam der junge Mann wiederholt an die Ostfront. Er sah Klassenkameraden fallen, überlebte Kälte und Nässe, Hitze, Sumpf und Mücken – Entbehrungen und körperliche Anstrengung also – und berichtete genau über alles: allein im Jahr 1943 schrieb er 230 Feldpostbriefe! – wobei er sich wegen der Zensur möglichst unverfänglich ausdrückte.
Interessant war eine Begegnung mit Indern in deutscher Afrika-Uniform auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück; sie waren in Libyen gefangen genommen worden und wurden nun für die Wehrmacht ausgebildet. Während eines Lehrgangs in Schwäbisch-Gmünd konnte der inzwischen 23-Jährige zarte Bande zu einer jungen Kunsthistorikerin knüpfen; ein paar Tanzabende, Spaziergänge und Museumsbesuche – das war’s, und dann ging’s wieder an die Front.
Bekanntlich brachte die Schlacht um Stalingrad die Wende und die Rote Armee zwang die Wehrmacht zum Rückzug. Ein letztes Mal traf die Familie Anfang Januar 1945 zusammen, als auch der jüngere Bruder Karl Heinrich auf Genesungsurlaub war. Am 1. Februar trat Georg seine letzte Reise zur Front an, die inzwischen an der Oder verlief; die Russen hatten nördlich von Küstrin schon zwei Übergänge geschaffen. Als Kompanieführer schrieb Georg auch von dort aus – zuletzt am 25. März 1945, als sein Bataillon sich in Friedersdorf unweit der Seelower Höhen in Ruhestellung befand. Zwei Tage später gab Hitler persönlich den Befehl zum Gegenangriff, um das belagerte Küstrin zu befreien – umsonst. Hitlers Kommentar zu dem gescheiterten Angriff: „Dann hat eben die Truppe versagt.“ Die letzte Großoffensive der Roten Armee hatte Erfolg, Berlin war nicht mehr zu retten.
Georg starb durch einen Scharfschützen
Erst zwei Jahre nach Kriegsende, nach quälender Ungewissheit, erhielt August Stamm die Nachricht, dass sein Sohn Georg am 27. März bei Golzow durch die Kugel eines russischen Scharfschützen tödlich getroffen wurde und gefallen sei. Etwa 100 000 Soldaten auf beiden Seiten, darunter viele junge, unerfahrene Kämpfer, sind im Frühjahr 1945 im Oderbruch umgekommen. Eine Monumentalstatue in Gestalt eines Sowjetsoldaten steht heute weithin sichtbar auf dem Plateau bei Seelow und erinnert an diesen blutigen Kampf.
von Dr. Irmgard Stamm