Die Belastung des Zweifels
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Ein Teilnehmer schwingt auf dem Cannstatter Wasen bei der Protestkundgebung der Initiative „Querdenken" eine Reichsflagge. Die Demo richtet sich gegen die Corona-Beschränkungen und für Grundrechte wie Versammlungsfreiheit und Glaubensfreiheit.
© Quelle: dpa
Marburg. Überall in Deutschland gehen immer mehr Menschen gegen die Corona-Einschränkungen auf die Straße. Neben Menschen mit berechtigten Ängsten finden sich darunter auch Personen, die zum Teil krude Verschwörungstheorien äußern. Der Marburger Politikwissenschaftler Professor Thomas Noetzel hält diese unter dem Slogan „Hygiene-Demos“ oder „Grundgesetz-Demos“ bekannt gewordenen Zusammenkünfte für extrem problematisch.
Zum einen sei es allein schon aus hygienischen Gründen gefährlich, demonstrativ die Abstandsregeln zu brechen oder keinen Mundschutz zu tragen. Zum anderen warnt er davor, dass die Bewegung ein Sammelbecken derer sei, die das liberaldemokratische System und die pluralistische Gesellschaft bekämpfen wollten. Dass sich Teilnehmer dieser Demos in ihrer politischen Haltung voneinander unterschieden, sei wenig verwunderlich. „Die Gegner einer offenen Gesellschaft kamen schon immer aus verschiedenen ideologischen Lagern“, sagt er und erinnert an die Querfront in der Weimarer Republik, in der sich die gegensätzlichen Ideologien des Nationalismus und des Sozialismus zu einer antidemokratischen Bewegung zusammengeschlossen hatten. Ausgelöst werde so etwas immer durch eine inhaltliche Unzufriedenheit. Geeint würden Rechte, Linke, Esoteriker und Reichsbürger in ihrem Kampf gegen die liberale Demokratie.
„Je mehr man weiß, desto größer werden die Zweifel“
„Hinzukommt, dass wir zurzeit mit einer erkenntnistheoretischen Krise konfrontiert sind“, erklärt Noetzel, der sich seit Jahren mit Verschwörungstheorien beschäftigt. Das Vernunftprojekt der Aufklärung komme zunehmend unter „Zersetzungsdruck“. Größere Bevölkerungsteile setzten kein Vertrauen mehr in die Vernunft – und das öffne den Raum für den Rückfall in den Aberglauben. Sozialpsychologisch sei das damit zu erklären, dass Wissen und Vernunft eine Haltung der Demut und Bescheidenheit erzeuge. „Je mehr man weiß, desto größer werden die Zweifel“, so Noetzel. Während des Corona-Diskurses könne man genau verfolgen, dass eine Forschung die nächste Forschung auslöse und Wissenschaft eben ein dynamischer Prozess sei.
Nur wenig sei klar und die Last des Zweifels, die mit dieser Unsicherheit einhergehe, sei für Menschen sehr belastend. Deshalb sei es viel leichter, sich in Verschwörungstheorien zu fliehen, die einfache, wenn auch krude Lösungen anböten.
Bill Gates, das Feindbild Nummer eins
Eine andere Methode, diesen Zweifel „auszurotten“ sei das Zuweisen von Verantwortung. „Es ist doch viel einfacher, wenn man jemandem die Schuld geben kann“, erläutert Noetzel und bezieht sich damit auf Bill Gates, der zum Feindbild Nummer eins der Corona-Verschwörungstheoretiker aufgestiegen ist. Dem US-Milliardär wird vorgeworfen, die gesamte Menschheit zwangsimpfen zu wollen, um noch reicher zu werden. Auch der Marburger Hermann Ploppa hat auf einer Demo in Marburg behauptet, dass Gates ein „Eugeniker“ sei, der Menschen Chips unter die Haut pflanzen wolle. Für Professor Thomas Noetzel sind diese kruden Verschwörungstheorien keine Überraschung. Vielmehr kämen in solchen Zusammenhängen immer wieder antisemitische Stereotype zum Vorschein. „Der Milliardär, der alles kaufen, der alles lenken kann.“
Auffällig sei auch, dass Anhänger von Verschwörungstheorien vornehmlich aus prekären Verhältnissen stammten.
Bildung und der Habitus der Bescheidenheit
Selbst die wissenschaftlichen Aushängeschilder der Corona-Leugner könnten als prekär bezeichnet werden, so Noetzel. Denn Bildung habe etwas mit dem Habitus der Bescheidenheit und des Zweifels zu tun. Und das ließen selbst die „Experten“ der Anti-Corona-Bewegung stark vermissen. Professor Sucharit Bhakdi, der die Gefährlichkeit des Coronavirus in Zweifel zieht, sei laut Noetzel ein „verrenteter Wichtigtuer“.
Auch der HNO-Arzt Dr. Bodo Schiffmann, der an vorderster Front der Corona-Kritiker kämpft, habe ein prekäres Selbstverständnis. „Wer im Arztkittel auf Demos rumläuft und davon seine Autorität ableitet, mit dem stimmt was nicht“, sagt Noetzel und kritisiert Schiffmanns Verhalten als „höchst unseriös“.
Der Marburger Politologe warnt davor, dass diese Bewegung wohl nicht so schnell vergehe. Auch nicht mit zunehmenden Lockerungen. Schließlich seien die Demos ein Artikulationsraum für angestauten Frust. „Diese Hass-Energie wird nicht verschwinden“, glaubt Noetzel und ordnet die Bewegung als gefährlich ein, da im Zentrum die Bekämpfung der liberalen Gesellschaft stehe. Zudem hätten auch Faschisten nicht nur ein strategisches, sondern auch ein inhaltliches Interesse an diesen Hygienedemos. Deshalb wundert es Noetzel nicht, dass Rechtsextreme Hygienedemos für sich vereinnahmten.
Generell sei die „Wutbürgerei“ hochproblematisch, da zu einer „zivilisierten Gesellschaft auch dazu gehöre, die Emotionen zu kontrollieren“. Wie groß dieses Problem sei, sehe man in den Vereinigten Staaten, an deren Spitze Donald Trump als der Wutbürger schlechthin stehe, der alle anderen auch noch ermutige, die Empörung mal rauszulassen. Das führe zu einer Spaltung der Gesellschaft. Verschwörungstheorien seien immer dann besonders stark, wenn es zu gesellschaftlichen Umbrüchen komme, wenn also sehr viele Menschen mit der Veränderung ihrer Lebenslage konfrontiert würden.
Den Drahtziehern offen entgegentreten
„Momentan ist die Welt in einer Krise und viele können dies nicht ertragen“, betont Noetzel, der dafür plädiert, den Drahtziehern von Verschwörungstheorien offen entgegenzutreten.
Man müsse aber auch empathisch auf die reagieren, die nicht in der Lage sind, mit Unsicherheiten umzugehen und deshalb auf Verschwörungstheorien hereinfielen. „Es sind zum Großteil Menschen, die Angst haben und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Denen dürfen wir nicht mit Verachtung begegnen“, betont der Marburger.