UKGM

„Der Pflegenotstand ist noch nicht vorbei“

Ein Intensivpfleger arbeitet in Schutzausrüstung im Krankenhaus Bethel Berlin an einem Corona-Patienten, der beatmet wird.

Ein Intensivpfleger arbeitet in Schutzausrüstung im Krankenhaus Bethel Berlin an einem Corona-Patienten, der beatmet wird.

Marburg. Mit der steigenden Zahl an Covid-19-Patienten steigt auch die Angst davor, dass das Gesundheitssystem überlastet wird. Doch: Nicht nur die Zahl der Intensivbetten ist für die Behandlung von Corona-Patienten entscheidend. Vielmehr warnen Intensivmediziner davor, dass es an entsprechend ausgebildeten Pflegekräften mangele.

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Vor diesem Hintergrund verlangt die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dass in Corona-Hotspots alle verschiebbaren medizinischen Eingriffe in Krankenhäusern abgesagt werden.

„Es ist allerhöchste Zeit, die Kliniken vom Regelbetrieb zu nehmen, damit wir uns voll auf die Intensivstationen konzentrieren können – und zwar nicht nur auf Covid-19-Patienten, sondern auf alle Schwerkranken“, sagte DIVI-Präsident Uwe Janssens jüngst. Dafür seien die Kliniken aber wie im Frühjahr auf Ausgleichszahlungen durch die Politik angewiesen.

Das UKGM ist eine der Hessischen Schwerpunktkliniken für Corona-Patienten. Wie sieht es also aus am Klinikum: Wie viele Intensivbetten hält das Klinikum vor – und wie ist deren Auslastung?

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Steibli: Können flexibel reagieren

„Wir passen unsere Kapazitäten im Universitätsklinikum Marburg stets nach den Vorgaben des Landes Hessen und der aktuellen Notwendigkeit an und stellen so die Versorgung unserer Covid-19-Patienten und unserer anderen Patienten sicher“, erläutert UKGM-Pressesprecher Frank Steibli auf Anfrage der OP. Dazu habe das Land „Eskalationsstufen“ mit entsprechenden Kapazitäten definiert.

„Wir befinden uns derzeit in Stufe 2 und haben gemeinsam mit den Krankenhäusern der Versorgungsregion alle dafür erforderlichen Maßnahmen getroffen, um angesichts der steigenden Zahlen an Covid-19-Patienten flexibel auf das dynamische Geschehen zu reagieren“, so Steibli.

Dazu stimme man sich sowohl mit den Krankenhäusern des Versorgungsgebietes als auch mit dem Ministerium ständig ab. Stand Mittwoch waren laut DIVI-Intensivregister von den 146 Intensivbetten im Landkreis 121 belegt – zwölf davon mit Covid-19-Patienten, von denen wiederum sieben invasiv beatmet wurden.

Personal ist limitierender Faktor

Wurden denn am UKGM bereits geplante Operationen verschoben, um Intensivbetten freizuhalten? „Zu sehr vereinzelten Absagen von hochaufwendigen Operationen kann es im Einzelfall bei einer akuten Belegung aller Intensivbetten vor einer Operation mit der Notwendigkeit einer postoperativen intensivmedizinischen Versorgung kommen“, erläutert Pressesprecher Steibli.

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Dies sei jedoch nicht pandemiespezifisch, „sondern ständiger Bestandteil der OP- und Bettenplanung. Mittel- bis langfristige Prognosen sind aber aufgrund der dynamischen Entwicklung zu dieser Frage nicht möglich“, erläutert er.

Kritisch wird es jedoch auch dann, wenn es zwar genügend Intensivbetten, aber nicht das entsprechend ausgebildete Personal zur Versorgung der Patienten gibt. Wie ist das UKGM in dieser Hinsicht aufgestellt? „Die derzeit am UKGM notwendige Bettenzahl ist durch entsprechendes Personal abgedeckt und auch temporäre Ausfälle durch vorbeugende Isolationen und Quarantänen können kompensiert werden“, versichert der Pressesprecher.

Demper: Intensivbehandlung derzeit gewährleistet

Man stehe in „sehr gutem Kontakt mit dem Gesundheitsamt“ und sei durch ein „breit aufgestelltes Hygienemanagement und durch die Etablierung eines Testkonzepts jederzeit handlungsfähig“. Außerdem sei es im vergangenen Jahr gelungen, die Zahl der Pflegekräfte aufzustocken.

Klar sei aber: Auch wenn das UKGM im intensivmedizinischen Bereich gut aufgestellt sei – „bei stark steigenden Covid-19-Zahlen ist der Mangel an intensivmedizinisch ausgebildeten Pflegekräften ab einem bestimmten Zeitpunkt der begrenzende Faktor in der Versorgung dieser Patienten. Dieser Zeitpunkt ist in Marburg derzeit aber nicht erreicht“, sagt Frank Steibli.

„Die Intensivbehandlung sehe ich zumindest derzeit schon gewährleistet“, sagt Wolfgang Demper, Betriebsratsvorsitzender des UKGM Marburg. „Aber der Pflegenotstand ist noch nicht vorbei.“ Rückblende: Vor einem guten Jahr wurde von den Mitarbeitervertretern der Pflegenotstand an den beiden Kliniken ausgerufen: Stationen und Betten waren aufgrund des Pflegekräfte-Mangels geschlossen, die Zahl der Überlastungsanzeigen war immens angestiegen.

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Mehr als 50 Mitarbeiter in Quarantäne

Und: In den Anzeigen gab es nicht nur massenhaft Hinweise auf Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, weil beispielsweise Pausen nicht gemacht werden konnten. Gravierender waren die Fälle, in denen Pflegekräfte davon berichteten, dass sie ihre Patienten nicht mehr adäquat versorgen konnten – dass also das Patientenwohl gefährdet sei.

Demper rechnet vor: „Alleine seit dem 18. März gibt es 151 Frauen mit Beschäftigungsverbot, weil sie schwanger sind. Mehr als 50 Kollegen befinden sich in Quarantäne oder vorsorglicher Quarantäne – wer macht denn deren Arbeit?“ Es gebe einen Aufruf vonseiten des Klinikums an die Beschäftigten, ob es Interessenten für die Mitarbeit auf Intensivstationen gebe.

„Die Kollegen sollen dann einen Crash-Kurs bekommen, um für die Intensivstation fit gemacht zu werden. Man versucht schon händeringend, Menschen für die Intensivstation zu finden – und es zeigt sich: Qualitativ gutes Personal ist auf dem Markt nur schwer zu bekommen – oder sehr teuer“, sagt Demper.

Crash-Kurs ersetzt keine Erfahrung

Die kurz angelernten Kräfte könnten jedoch maximal als Unterstützung dienen, denn: „Intensivpfleger haben eine insgesamt fünfjährige Ausbildung“ – an die pflegerische Ausbildung schließen sich zwei Jahre Fachweiterbildung an. Dieses Wissen „und auch die langjährige Berufserfahrung“ lasse sich durch einen Crash-Kurs natürlich nicht vermitteln. „Corona-Patienten müssen beatmet werden, sind extrem pflegeaufwendig und Intensivkräfte haben auch viele Kompetenzen, was den Einsatz etwa von Medikamenten angeht“, führt der Betriebsratsvorsitzende aus.

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Spannend sei in diesem Zusammenhang, so Demper, dass das UKGM nicht nur seine etwa 80 bestehenden Intensivbetten habe, „sondern auch 37 zusätzliche Intensivbetten aufgestellt hat“. Für diese gebe es 50.000 Euro je Bett – „allerdings muss dafür kein Personal nachgewiesen werden – das hat der Gesetzgeber nicht verlangt“.

In Gießen seien es gar 39 zusätzliche Intensivbetten, „macht zusammen 3,8 Millionen Euro“, rechnet Demper vor. Man gehe eigentlich von einem Personalschlüssel von 2,4 Pflegekräften pro Intensivbett aus, „für die 37 zusätzlichen Intensivbetten in Marburg benötigt man also alleine fast 90 Leute, um einen Dreischichtbetrieb sicherstellen zu können. Die gibt es aber nicht.“ Ob die Betten belegt seien, wisse Demper nicht, „auf diese Frage habe ich noch keine Antwort bekommen“.

Überlastungsanzeigen am UKGM

Vergangenes Jahr sorgten Anzahl und Inhalt der sogenannten Überlastungsanzeigen für Aufsehen. Was ist seither passiert?

„Die Geschäftsleitung hat sich deutlich intensivermit dem Thema auseinandergesetzt“, sagt Betriebsratsvorsitzender Wolfgang Demper. So gebe es nun ein Programm mit Ampelsystem, das den Bearbeitungsstand der jeweiligen Anzeigen visualisiere – von den Stellungnahmen der Pflegedienstleitung bis hin zum Abschlussprotokoll des Pflegedirektors.

Aber: „An der Anzahl und der Qualität der Überlastungsanzeigen hat sich nichts geändert – auch, weil Mitarbeiter an Corona erkranken und in Quarantäne gehen oder vorsorglich in Quarantäne gehen. Zusätzliches Personal fehlt aber – die Belastung für den Einzelnen steigt.“ Auch Pflegeaufwand und das Umsetzen des Hygienekonzepts koste viel Zeit, „die das Personal aber in der Regel nicht hat. Da wir keinen spürbaren Personalaufbau feststellen können, hat sich an den Überlastungsanzeigen nicht viel getan.“

„Die Pandemie fordert die Mitarbeiter in den betroffenen Bereichen“, sagt UKGM-Pressesprecher Frank Steibli. „Es sind viele herausfordernde Situationen zu meistern, es gab und gibt viele Veränderungen im Arbeitsalltag.“ Vor diesem Hintergrund „bewegen sich Beschwerden im üblichen Rahmen. Es ist weiterhin unverändert so, dass jede Überlastungsanzeige gelesen und aufgearbeitet wird, dies in einem nochmals optimierten Prozess, der in voller Transparenz und in regelmäßigen gemeinsamen Gesprächen zwischen dem Betriebsrat und der Geschäftsführung organisiert ist“, so der Pressesprecher. Zur Zahl der Anzeigen machte das UKGM keine Aussage.

Ärzte fordern Absage von OPs

Die Ärzteorganisation Marburger Bund, DIVI und andere Fachgesellschaften werfen Krankenhäusern vor, ihre Kapazitäten aus Umsatzgründen nicht auf Covid-19-Patienten zu konzentrieren. „Die Krankenhäuser in stark belasteten Regionen müssen unverzüglich von der Politik aufgefordert werden, plan- und verschiebbare stationäre Eingriffe je nach Belastungssituation zu reduzieren beziehungsweise einzustellen“, fordern die Ärzte.

Sie warnen vor einem Kollaps in den Klinken: „Ohne diese zusätzliche Unterstützung ist die Belastungsgrenze insbesondere auf vielen Intensivstationen schon bald überschritten.“

Anästhesisten und Intensivmediziner hatten vor wenigen Tagen gewarnt: „Die nahezu ausschließliche Konzentration auf Covid-19-Patienten wie im Frühjahr sind in diesem Ausmaß weder erneut möglich noch medizinisch vertretbar.“ Bereits bei einer Belegung von 20 Prozent der Intensivbetten mit den besonders zu isolierenden Covid-19-Patienten müsste die Behandlung anderer Patienten eingeschränkt werden.

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