Corona-Lockdown

Hilferufe aus den Kitas

„Das Maß ist voll.“ Das ist die Überschrift eines offenen Briefes an die Politik, den Kita-Leiterinnen aus Marburg-Biedenkopf und Waldeck-Frankenberg verfasst haben. Elf trafen sich gestern Morgen, insgesamt sind es mehr als 40.

„Das Maß ist voll.“ Das ist die Überschrift eines offenen Briefes an die Politik, den Kita-Leiterinnen aus Marburg-Biedenkopf und Waldeck-Frankenberg verfasst haben. Elf trafen sich gestern Morgen, insgesamt sind es mehr als 40.

Marburg. Sie sind enttäuscht. „Es ist wieder nichts passiert und wir müssen zusehen, wie wir zurechtkommen“, sagt Ulrike Panovsky. Die Leiterin der evangelischen Kita „Arche“ in Wohra erntet zustimmendes Nicken ihrer Kolleginnen, die sich am Mittwochmorgen auf dem Hof der Kita versammelt haben. Es sind Erzieherinnen in Leitungsfunktionen von Kitas aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf und Waldeck-Frankenberg. Mehr als 40 Einrichtungen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam an die Öffentlichkeit zu gehen. „Das Maß ist voll.“ Mit diesen eindringlichen Worten haben sie einen Brandbrief überschrieben, den sie an Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und andere namhafte Politiker verschickt haben. Denn von ihnen fühlen sie sich im Stich gelassen.

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Auslastung bei 50 Prozent, Tendenz steigend

Trotz ihrer Masken steht ihnen der Frust und die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Mit Spannung haben sie am Vorabend mitverfolgt, wie es mit dem Corona-Lockdown in Deutschland weitergeht. Sie haben gehofft und gebangt – und wurden wieder enttäuscht: Die bisherige Regelung, die Kitas betreffend, bleibt auch weiterhin bestehen. In der Mittwochnachmittag veröffentlichten Pressemitteilung aus der hessischen Staatskanzlei ist dies so definiert: „Eltern sollen – wo immer möglich – ihre Kinder zu Hause betreuen.“

Eine viel zu schwammige Formulierung, finden die Erzieherinnen. Die Politik habe mit den neuen Beschlüssen wieder verpasst, klare Regelungen zu schaffen. Wieder seien es die Erzieherinnen, die an die Eltern appellieren müssten, ihre Kinder bitte zu Hause zu lassen. Im Sinne einer erziehungspartnerschaftlichen Basis setze das das Vertrauen der Eltern aufs Spiel und sorge bei allen Beteiligten für Unmut, erklärt Uthe Salaba-Gröger, Leiterin der evangelischen Kita „Sonnenblume“ in Halsdorf.

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Täglich würden immer mehr Kinder zurück in die Kita gebracht, kritisieren die Leiterinnen. „Das ist keine Notbetreuung mehr. Im Grunde haben wir offen“, sagt Bettina Witt-Weber. Die Leiterin der evangelischen Kita „Abenteuerland“ in Niederweimar berichtet, dass am Vortag 71 Kinder von 131 Kindern in der Betreuung waren. Auch in den anderen Kitas bestehe momentan eine Auslastung von mehr als 50 Prozent. Tendenz steigend. Manche Krippengruppen seien sogar bis zu 90 Prozent ausgelastet.

„Wir wissen ja, in welcher Not manche Eltern sind, und da helfen wir natürlich gerne“, betont Ilona Gerbitz-Mess, Leiterin der evangelischen Kita „Mäuseburg“ in Rauschenberg. Schließlich würden auch Eltern allein gelassen. Aufgrund fehlender Regelungen hätten Väter und Mütter Schwierigkeiten, mit ihren Arbeitgebern zu kommunizieren, um andere Betreuungslösungen zu finden. Es gebe Beispiele von voll berufstätigen Eltern, die sich sehr bemühten, ihre Kinder dennoch zu Hause zu betreuen – andere hingegen machten es sich da leichter. Das sorge auch für Zorn bei den bemühten Eltern.

Hinzu komme, dass die Regierung nun zwar eine Aufstockung des Kinderkrankengeldes beschlossen hat (von 10 auf nun 20 Tage); was dies in der Umsetzung genau bedeute, sei jedoch noch nicht klar formuliert, monieren die Erzieherinnen.

Klar hingegen ist, dass die Kita-Beschäftigten ihren Job gerne machen. Auch unter den erschwerten Bedingungen während der Corona-Pandemie. Trotz des Ansteckungsrisikos. Und das ist hoch. Wer beruflich mit Kindern arbeitet, hat das höchste Risiko, wegen einer Corona-Infektion krankgeschrieben zu werden. Auf 100 000 Beschäftigte kommen in der Kinderbetreuung 2 672 Corona-Erkrankungen. Das geht aus einer im Dezember veröffentlichten Auswertung der Krankenkasse AOK hervor. Damit liegt deren Betroffenheit mehr als das 2,2-Fache über dem Durchschnittswert.

Erschwerend hinzu kommt nun die Angst vor den Mutationen des Corona-Virus, die offensichtlich noch ansteckender sind, sich schneller verbreiten und von denen nach ersten Erkenntnissen auch Kinder öfter betroffen sind. „Dessen ist man sich von Regierungsseite her bewusst und trotzdem werden keine klaren Formulierungen getroffen“, kritisiert Birgit Heißmeier, Leiterin der evangelischen Kita in Gemünden. Jedes Kind mehr in der Einrichtung bedeute schlichtweg ein erhöhtes Risiko für die anderen Kinder, die Erzieherinnen und eben auch deren Familien.

„Wir haben zu Hause auch Risikogruppen und die wollen wir natürlich auch schützen“, betont Christina Badouin, Leiterin der evangelischen Kita „Sternchen“ in Betziesdorf. Sie und ihre Kolleginnen empfinden es als „irrsinnig“, dass sie sich im privaten Umfeld nur mit einer weiteren Person aus einem anderen Haushalt treffen dürfen, aber an ihrem Arbeitsplatz mit Kontakten von bis zu 26 Familien pro Gruppe konfrontiert seien. Kontaktbeschränkung sehe anders aus.

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Hinzu komme, so die Pädagoginnen, dass Kinder mit „Rotznase“ und anderen Krankheitssymptomen oft weiter in die Kita geschickt und von vielen Ärzten gar nicht auf Corona getestet würden. Demgegenüber blieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Hause, bis eine Klärung der Erkrankung vorliege. Dies führe dann allerdings zu erheblichem Personalmangel in den Einrichtungen und erschwere die ohnehin strapazierte Organisation.

Vom jüngsten Corona-Gipfel erhofft hatten sich die Kita-Beschäftigten eine klare Regelung wie im Frühjahrs-Lockdown, als nur systemrelevante Berufsgruppen ihre Kinder in die Betreuung bringen durften. Nun appellieren sie an die Entscheidungsträger, ihre Politik noch einmal zu überdenken. Zum Wohle und zum Schutze aller.

Von Nadine Weigel

Das haben sie nicht verdient

Kommentar

Ihnen vertrauen wir unser Kostbarstes an – unsere Kinder. Kita-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten extrem wichtige Arbeit während der Corona-Pandemie.  Mit Herzblut, Leidenschaft und Kreativität sind sie täglich für die Kleinsten da. Trotz der Gefahr. Trotz der Angst. Trotz des enormen Ansteckungsrisikos, das um ein Vielfaches höher ist als bei anderen Berufsgruppen, wie unlängst eine Studie zeigte. Doch als Dank bekommen sie nun noch den Schwarzen Peter zugeschoben. 

Sie werden quasi gezwungen, Eltern darum zu bitten, ihre Kleinen zu Hause zu lassen.  Damit schiebt die Politik die Verantwortung von sich. Das ist unfair und feige. Das moralische Dilemma müssen sowohl die Kita-Beschäftigten ausbaden als auch die Eltern. Denn auch die wünschen sich verbindliche Aussagen. Im ersten Lockdown durften nur systemrelevante Berufsgruppen ihre Kinder in die Betreuung schicken. Fertig. Jeder wusste Bescheid und konnte danach handeln. Jetzt allerdings sorgen schwammige Formulierungen für Unmut bei allen Beteiligten. Dem muss Abhilfe geschaffen werden. Nur so kann es der Politik gelingen, dass die Menschen des Lockdowns nicht überdrüssig werden und zusammenhalten.   Das ist der einzige Weg raus aus der Krise.

Von Nadine Weigel 

OP

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