Corona-Politik

Frust pur: Betriebe in Marburg bangen um ihr Überleben

Lockdown Marburg – in einem Geschäft in der Marburger Oberstadt hängt ein Werbeplakat für die Onlinebestellung.

Lockdown Marburg – in einem Geschäft in der Marburger Oberstadt hängt ein Werbeplakat für die Onlinebestellung.

Marburg. Die Lockdown-Verlängerung bis 7. März, die Vorgabe, dass Handel und Gastronomie erst ab einem stabilen Inzidenzwert von unter 35 wieder öffnen können, stößt bei der heimischen Wirtschaft auf Unverständnis. Eberhard Flammer, Präsident der IHK Lahn-Dill, verdeutlichte gestern während des Konjunktur-Pressegesprächs (Bericht auf Seite 22): „Wir sind bestürzt über das ,Weiter so’“. Für ihn steht fest: „Die Flurschäden, die dadurch entstehen, treffen ins Mark, sie sind nachhaltig – wir fürchten um tausende Existenzen und Arbeitsplätze.“

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Zudem gehe der Lockdown mit einer nachhaltigen Wettbewerbsverzerrung einher: „Wieso muss ein Textil-Einzelhandelsgeschäft geschlossen bleiben – und die Großmarkt-Einzelhändler erweitern dann fröhlich ihr Sortiment“, so Flammer, das könne nicht sein. „Das kommt einem Konjunkturprogramm für den virtuellen und den Versandhandel gleich.“

Christian Großmann, der für den Marburger Werbekreis Nordstadt etwa zwei Dutzend Firmen im Blick hat, sagt: „Der Frust hat permanent zugenommen und nimmt weiter zu. Bei mir und den meisten herrscht völliges Unverständnis darüber, wie man auch ein Jahr nach Pandemie-Beginn keine passgenauen Lösungen erarbeitet, nicht zielgenau vor Ort Konzepte umsetzen lässt und nur weiter mit der Keule überall draufhaut.“

Die Gewerbetreibenden „brauchen Spielräume, kriegen aber keine“. So werde „die Luft immer dünner“. Das Sicherheitskonzept seines Augenoptik- und Hörakustik-Geschäfts in der Bahnhofstraße sei nicht anders als die Hygiene-Vorschriften, die bei Modehandel oder Friseur umgesetzt werden könnten. Großmann, der das gerade für den Marburg prägenden und über Jahrzehnte aufgebauten kleinteiligen Einzelhandel als „problemlos umsetzbar“ sieht, fürchtet viele Firmenpleiten noch vor dem Stadtjubiläum 2022. „Niemand hier will Entlassungen, alles wird für den Arbeitsplatz-Erhalt getan. Aber irgendwann ist die Luft eben weg.“

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Peter Ahrens: „Es brennt an allen Ecken und Enden“

Peter Ahrens, Inhaber des gleichnamigen Kaufhauses in der Marburger Innenstadt, sagt: „Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden bundesweit, aber auch vor Ort gewaltig – und diese Folgen werden ja politisch nicht mal bedacht.“ Er habe mit einer Öffnung am kommenden Montag gerechnet, um zumindest noch Teile der Winterware verkaufen zu können. Nun werde nicht nur das „unmöglich gemacht“, sondern auch noch das Frühjahrsmode-Geschäft „angeschossen“. Die Abholstation und der Online-Markt sorgen laut Ahrens nur für einen Bruchteil des Umsatzes, das Kurzarbeitergeld helfe dem Unternehmen wie den Angestellten. Aber im gerade für Marburg so wichtigen stationären Handel „brennt es an allen Ecken und Enden“.

„Der Frustpegel steigt immer weiter und die Aussicht für viele Betriebe und Angestellte ist unschön. Es werden schwere Entscheidungen bevorstehen“, sagt Wolfram Kühn, Vorsitzender des Werbekreises Kaufpark Wehrda in Marburg. Der Infektionsschutz und ein Niedrighalten der Corona-Zahlen seien wichtig, aber eben auch leistbar – das habe der Handel ebenso wie die Gastronomie im vergangenen Jahr erprobt, die wenigen im Kaufpark geöffneten Läden bewiesen den Erfolg bis heute. „Es wäre also für alle Geschäfte einiges an Lockerungen möglich, aber einem Großteil ist die Perspektive verbaut.“ Die plötzliche Absenkung der Lockerungsschwelle von Inzidenzwert 50 auf 35 sei „nicht nachvollziehbar“, die Politik erhöhe das Pleite-Risiko auch für Firmen in Marburg und Umgebung.

Cristina Glaeser: „Weiß nicht, wie man das aufholen soll“

Jörg Palm, bei der IHK Lahn-Dill Vorsitzender des Handelsausschusses und Inhaber und Geschäftsführer von Juwelier Palm in Wetzlar, erläutert, dass mit der Überbrückungshilfe III nun „die erste Hilfe, die wir Händler überhaupt beantragen können, freigeschaltet“ worden sei – das gehe zwar nur über Steuerberater, die auch gerade überlastet seien, doch immerhin gebe es eine Perspektive. Er verdeutlicht: „Es ist noch kein Cent Hilfe angekommen, wir gehen alle in Vorleistung mit Geldern, die wir uns, wenn es gut gelaufen ist, ansparen konnten – viele haben aber auch Kredite aufgenommen, damit ihr Geschäft überhaupt weiter besteht. Und das alles völlig unverschuldet.“ Die Solidarität, die Geschäfte für den Gesundheitsschutz zu schließen, stehe außer Frage. „Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße“, so Palm.

Cristina Glaeser ist in Kirchhain gleich zweifach mit ihren beiden Fachgeschäften – „Schuh und Mode Glaeser“ und „Frauenzimmer“ – vom Lockdown und dessen erneuter Verlängerung betroffen. Sie verstehe, dass man Maßnahmen gegen die Pandemie treffen müsse, jedes Menschenleben zähle. „Aber man weiß als Händler nicht, wie man das aufholen soll. Jeder Tag, der uns fehlt, ist eine Katastrophe“, sagt Glaeser.

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Bestellte Ware müsse abgenommen und könne nicht einfach zurückgeschickt werden. Die Perspektivlosigkeit mache mürbe und traurig. Es fehle jede Planbarkeit angesichts des neuen Inzidenzwerts 35 als „Schwellenwert“ für eine weitere Lockerung. Dabei habe sie zum Schutz von Kunden und Mitarbeitern in eine Klimaanlage mit modernen Filtern investiert, die Viren abtöteten. Glaeser kritisiert auch die Situation bei den Hilfen. Das Antragsverfahren sei aufwendig und kompliziert. Mögliche Zahlungen stehen aus ihrer jetzigen Sicht in keinem Verhältnis zu den Verlusten durch die Schließungen. „Und Kleine wie wir fallen dabei teilweise durch die Raster“, sagt Cristina Glaeser.

Von Björn Wisker, Andreas Schmidt und Michael Rinde

OP

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