Das Schlimmste ist die Perspektivlosigkeit
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Ein Bild aus Vor-Corona-Zeiten: Der Flohmarkt auf dem Waggonhallen-Gelände ist seit Jahren ein Besucher-Magnet. In dichtem Gedränge bummeln dort immer am letzten Samstag im Monat tausende Menschen an den Ständen vorbei. Ob und wann dieser Flohmarkt wieder stattfinden kann ist ebenso offen wie der Start für das beliebte Waggonhallen-Kulturprogramm.
© Quelle: Foto: Thorsten Richter
Marburg. „Wir vermissen Sie“, steht auf einem Plakat am Eingang der Waggonhalle. Gemeint sind die Besucher und die Künstler, die das Kulturzentrum auf dem ehemaligen Bahngelände normalerweise so attraktiv machen.
Als am 12. März „Klaus, der Geiger“ die Bühne der Waggonhalle betrat, ahnten nur einige Virologen und Epidemie-Experten, was da auf Deutschland und die Welt los rollte. Ein Virus namens Sars-CoV-2, das die Krankheit Covid-19 auslöst, hat seither unter dem Begriff Corona-Pandemie die Welt im Griff. In Deutschland wurden Geschäfte, Kinos, Restaurants, Theater und Kulturzentren wie die Waggonhalle geschlossen.
Der Auftritt von „Klaus, der Geiger“ war der letzte in der Waggonhalle vor der Schließung. „Am 14. März stand die ,Bang-Haus Swing Combo’ schon auf der Bühne, als die Verordnung des Gesundheitsamtes kam“, erinnert sich Waggonhallen-Chef Matze Schmidt. Seither ist das Kulturzentrum dicht, das normalerweise ein Vollprogramm mit mehr als 200 Veranstaltungen pro Jahr bietet. Jetzt im Mai wäre Hochsaison.
Der Reiz der 2017 mit großem Aufwand sanierten Waggonhalle liegt einerseits an dem Industrieambiente auf dem ehemaligen Bahngelände und an der in Marburg in dieser Form einmaligen Kombination von Kultur (Waggonhalle) und Gastronomie (Rotkehlchen), die die Gründer um Matze Schmidt in den 1990er-Jahren sehr vorausschauend geplant hatten. Diese Trennung bedingt eine besondere Verwaltungsform: Das Kulturzentrum Waggonhalle ist ein Verein, der von der Stadt Marburg mit 130000 Euro pro Jahr unterstützt wird. Die Stadt übernimmt auch die Miete des Gebäudes, das der städtischen GeWoBau gehört. „Weil wir in Kurzarbeit gegangen sind, können wir mit den Zuschüssen überleben“, sagt Matze Schmidt. Er meint das Kulturzentrum.
Anders sieht es beim Rotkehlchen aus. Das ist ein Wirtschaftsbetrieb, als Waggonhallen-Verwaltungs GmbH organisiert. Die Umstrukturierung war 2005 notwendig geworden, um damals mit der Bahn als Vermieterin verhandeln zu können. Geschäftsführer sind Marion Breu, Nisse Kreysing und Matze Schmidt, die seither den Spagat zwischen Kulturplanung und Wirtschaftsplanung leisten müssen. In Corona-Zeiten ist dies problematisch. „Schon vor Corona ist man als Gastronom nicht reich geworden. Wie soll das jetzt gehen? Ich warte auf die ersten Insolvenzen“, fasst Marion Breu die Lage mit Blick auf das Rotkehlchen zusammen. Eine Schließung des Rotkehlchens sei nicht auszuschließen.
Das Rotkehlchen ist seit dem 15. Mai offen – so wie alle anderen Gastronomiebetriebe. „Man könnte in unserem Biergarten eigentlich schön sitzen“, sagt Marion Breu. Doch nachmittags macht der Baulärm vom benachbarten Lokschuppen Gespräche äußerst schwierig. Und abends fehlt der Kulturbetrieb der Waggonhalle. Das Rotkehlchen hat derzeit noch beschränkte Öffnungszeiten – Mittwoch bis Samstag von 17 bis 22 Uhr, Sonntag von 12 bis 18 Uhr.
Ist der Biergarten bei schönem Wetter gut besucht, kommen wenigstens die Unkosten rein. Wenn nicht, schreiben sie rote Zahlen. „Wir wissen nicht, wie lange wir das durchhalten können“, sagen Breu, Schmidt und Kreysing. Sie haben für den Wirtschaftsbetrieb eine Corona-Soforthilfe beantragt, bislang aber noch keine Rückmeldung erhalten.
Und in Sachen Kultur sieht es in der Waggonhalle derzeit auch noch düster aus. „Als das Land mitteilte, dass wieder Veranstaltungen bis zu 100 Leuten erlaubt seien, haben wir viele Anrufe erhalten: Glückwunsch, ihr könnt wieder loslegen“, erzählt Nisse Kreysing.
Doch so einfach ist es nicht. Weniger als 20 Besucher dürften unter Corona-Abstandsbedingungen in die Waggonhalle, bei speziellen Bühnenlösungen noch weniger. Damit sind Großprojekte wie die Varieté-Shows oder die Musicals nicht zu finanzieren. „Vielleicht etwas kleines, eine Lesung“, meint Marion Breu.
Die Folgen: Die schwarze Komödie „Arsen und Spitzenhäubchen, ein Publikumsrenner mit Matze Schmidt und Nisse Kreysing als ebenso bezaubernde wie mörderische Giftmischerinnen, wurde in den Herbst und Winter verschoben und die im Sommer geplante „Rocky Horror Show“ in den Januar.
Sie alle drei setzen nun auf „Jesus Christ Superstar“. Das fast fertig geprobte Musical sollte eigentlich im April und Mai gespielt werden. Jetzt hoffen alle, dass die Premiere am 25. Juli stattfinden und man einen Neustart wagen kann. Ob das klappt ist offen. Unter den derzeitigen Bedingen ist es nicht möglich.
„Das Schlimmste an der Situation ist die Perspektivlosigkeit. Das ist wirklich deprimierend“, sagt Matze Schmidt.
OP