Ziel: Dem Virus die Grundlage entziehen
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Maske tragen und Abstand halten – das sind für Professor Harald Renz weiterhin zwei wesentliche Faktoren im Kampf gegen die Corona-Pandemie.
© Quelle: Thorsten Richter
Marburg. Die weitere Verschärfung der Corona-Maßnahmen wird kommen – das steht seit heute fest. Professor Harald Renz, ärztlicher Direktor des UKGM Marburg, äußert sich im OP-Interview zu aktuellen Corona-Themen.
Wie wichtig ist es, dass das BioNTech-Werk in Marburg nun grünes Licht zur Produktion bekommen hat?
Das ist natürlich einmal wichtig, als Biotechnologie-Standort in Marburg. Emil von Behring vor über 100 Jahren war der Pionier der modernen Impfungen und nun knüpft hier BioNTech im 21. Jahrhundert an diese Tradition an. Was für eine zukunftsweisende Geschichte! Aber darüber hinaus geht es natürlich um die Kapazitäten zur Herstellung der Impfstoffe. Dass Marburg hier einen wichtigen Beitrag leisten kann, ist hervorragend. Wir erleben ja gerade, was es bedeutet, wenn nicht ausreichend und schnell genug Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden können. Dies führt zur Verunsicherung und Unruhe, das fördert die Neidkultur (wer ist geimpft, wer noch nicht geimpft?), und hier kann Marburg auch einen weit über Marburg hinaus sichtbaren Beitrag leisten.
Die Impfbereitschaft in Deutschland ist seit November gestiegen: Laut Politbarometer wollen sich 67 Prozent impfen lassen, 10 Prozent gar nicht, der Rest ist noch unentschieden. Genügt diese Impfquote?
Impfen hat mehrere Effekte. Zum einen natürlich den Schutz des Geimpften, und hier liegt der Fokus gegenwärtig auf die Hochrisikopopulationen, seien es die Alten und chronisch Kranken, seien es die Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Darüber hinaus hat aber das Impfen auch einen epidemiologischen Effekt. Bei erzielter Herdenimmunität wird einer weiteren Ausbreitung des Virus in einer Population die Grundlage entzogen. Es finden sich dann nicht mehr genügend Menschen für das Virus, dass es sich vermehren und weiter ausbreiten kann.
Dieser Effekt wird aber nur erreicht, wenn eine hohe Zahl der Bevölkerung sich impfen lässt und auch durch die Impfung geschützt ist. Wie hoch der Anteil der durch die Impfung geschützten Bevölkerung sein muss, um dieses Kriterium der „Herdenimmunität“ zu erreichen, ist gegenwärtig noch nicht ganz klar, liegt aber unter Umständen bei rund 75 Prozent der Bevölkerung. Der entscheidende Appell ist: Lasst uns hier gesamtgesellschaftlich zusammenrücken, um eine Herdenimmunität zu erzielen. Damit ist die gesamte Bevölkerung angesprochen.
Wie könnte die Impfbereitschaft gesteigert werden?
Für mich stellt sich die Covid-19-Erkrankung mittlerweile als ein „Russisches Roulette“ dar. Das hört sich vielleicht etwas extrem an, aber es ist einfach nicht voraussehbar, wer letztlich an einer schweren Covid-19-Erkrankung leiden wird, wer braucht Beatmung, wer wird möglicherweise sogar sterben. Natürlich sind es überwiegend die älteren, immunologisch schwachen und chronisch Kranken. Wir sehen aber auf den Intensivstationen immer mehr auch jüngere Patienten.
Und dann gibt es das Thema der Spätschäden, welches mehr und mehr in den Fokus der Ärzte und Wissenschaftler rückt. Hierzu zählen Störungen der Gehirnfunktion mit Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Leistungsminderung, Herzerkrankungen, Nierenerkrankungen, Gefäßerkrankungen. Die sich unter Umständen, soweit man es jetzt schon absehen kann, sehr, sehr lange hinziehen können. Dem gegenüber steht die Chance, durch die Impfung für sich selber einen Schutzwall aufzubauen. Diese Chance sollte jeder gemessen am Risiko der Erkrankung ergreifen.
Was halten Sie von dem Ruf nach einer Impfpflicht für Pflegekräfte?
Eine Impfpflicht ist natürlich immer das letzte Maß der Dinge. Wir haben schon eine Impfpflicht, und zwar die Masernimpfung. Auf eine Impfpflicht sollte immer dann zurückgegriffen werden, wenn es nicht gelingt, auf freiwilliger Basis die Herdenimmunität zu erreichen. Insofern habe ich noch die Hoffnung, dass es uns auf freiwilliger Basis gelingt, und dass nicht zum Mittel der Impfpflicht gegriffen werden muss. Warten wir es aber ab.
Mit den nun weiteren zugelassenen Impfstoffen: Wird sich das Impftempo merklich erhöhen?
Natürlich, umso mehr Impfstoff zur Verfügung steht und produziert werden kann, umso mehr und umso rascher kann die Bevölkerung geimpft werden. Wir werden dann auch über die Zeit sehen, welcher Impfschutz in welchem Teil der Bevölkerung (Risikogruppe) welches Maß an Schutz wirklich auch bieten wird. Das ist ja alles überhaupt noch gar nicht richtig bekannt und auch noch überhaupt nicht miteinander und nebeneinander verglichen worden. Ohne Frage, das Durchimpfen der Bevölkerung sollte schnell passieren, allerdings müssen wir uns auch immer vergegenwärtigen, dass Impfen alleine nicht die Lösung sein wird. Das Impfen stellt jetzt einen, wenn auch wichtigen, Baustein in einem ganzen Baukastensystem dar. Wir werden um die individuellen Schutzmaßnahmen nicht herumkommen, trotz Impfen.
Es kursieren im Netz Gerüchte, die mRNA-Impfstoffe könnten das Erbgut manipulieren oder würden unfruchtbar machen. Warum ist das nicht so?
Es ist hier wie immer: Es kommt was Neues, und es gibt auch noch nicht viele Erfahrungen, aber es brodelt schon die Gerüchteküche. Hier mein Appell an die Entwickler dieser neuen Impfstoffe: Kümmert euch mehr um die Aufklärung der Bevölkerung! Es ist nicht nur die Aufgabe der öffentlichen Hand, sondern auch die Aufgabe der Pharmaindustrie, dazu einen wesentlichen Baustein und Beitrag zu leisten!
Jetzt mal aus rein fachlicher Sicht: Nein, der mRNA-Impfstoff wird nicht in das Erbgut eingelagert. Es kommt nicht zur Veränderung der genetischen Information. Aber vieles andere um diese neue Impfstoffklasse ist noch nicht bekannt, kann es auch nicht, weil der Impfstoff erst seit Kurzem an den Menschen getestet wird. Eine der zentralen offenen Fragen ist: Schützt der Impfstoff nur vor Erkrankung oder auch vor einer Virusverbreitung, oder bleiben die Geimpften zwar von einer Covid-19-Erkrankung verschont, scheiden das Virus aber bei einer Infektion nach wie vor aus und verbreiten es in der Bevölkerung? Wie lange hält der Impfschutz an? Wie gut ist der Impfschutz bei den verschiedenen Mutanten, die auch noch kommen werden?
Wie sehr besorgt Sie das Thema der Virus-Mutationen?
Die Mutationen als solche sind zunächst nichts Überraschendes. Viren mutieren immer. Umso schneller sich ein Virus ausbreitet, umso mehr Mutationen finden sich. Viele dieser zufälligen Veränderungen der Sequenz haben gar keine oder nur minimale Auswirkungen auf die Gefährlichkeit des Virus. Andere Mutationen können allerdings sehr gefährlich werden. Das sind dann zum Beispiel solche „Superspreader“.
Wie dramatisch kann es dadurch in Deutschland werden?
In vielen Teilen des Landes – aber bei Weitem eben nicht in allen – nimmt die Sieben-Tage-Inzidenz langsam etwas ab. Wenn allerdings jetzt eine Mutante sich ausbreitet, die sehr schnell sehr viele Neuinfektionen verursacht, kann der Effekt, der sich nun durch den Lockdown abzeichnet, schnell wieder zunichtegemacht oder sogar komplett überrollt werden. Deswegen ist es wichtig, nun vermehrt zu sequenzieren und nicht nur zu testen mit PCR- und Antigen-Schnelltests, um die Ausbreitung solcher Varianten zügig zu erfassen und gegenzusteuern.
Ist unter diesen Voraussetzungen das erklärte Ziel – eine Inzidenz unter 50 – überhaupt zu erreichen, noch dazu im Winter?
Wahrscheinlich wird alles noch sehr viel länger dauern, als sich der eine oder andere ausgerechnet hat. Schon jetzt richtet sich der Blick in die zweite Jahreshälfte, und mancher Experte warnt vor einer „dritten Welle“ im weiteren Verlauf des Jahres.
Was müsste unternommen werden, um dieses Ziel dennoch zu erreichen?
Es hört sich archaisch an, aber auch im modernen 21. Jahrhundert setzen wir auf Masken tragen, Abstand halten, Hände waschen und Händedesinfektion, vermeiden von Gruppenansammlungen und so weiter. Nach wie vor gilt: Es liegt an jedem von uns.
Ist der nun nochmals verschärfte Lockdown zielführend?
Umso mehr wir uns bewegen – lokal, regional, überregional, international – umso höher die Chance für das Virus, sich weiter zu verbreiten. Zumal viele Menschen asymptomatisch vom Virus infiziert sind, also gar keine oder nur ganz milde Symptome zeigen und gar nicht wissen oder gar nicht damit rechnen, dass sie Virusträger sind. Das ist ja auch übrigens eines der Themen in den Schulen.
Was halten Sie von einer FFP2-Maskenpflicht, wie Söder sie eingeführt hat?
Wenn wir mit unseren Krankenhaushygienikern sprechen, dann empfehlen sie den medizinischen Mund-Nasen-Schutz. Dieser bietet eine 50/50-Sicherheit für die anderen und vor den Viren in der Luft. Dem gegenüber haben die Stoffmasken vielleicht eine zehnprozentige Sicherheit. Aber: Eine FFP2-Maske hilft nur, wenn sie perfekt sitzt, was allerdings bei den allermeisten Laien-FFP2-Maskenträgern nicht der Fall ist. Dann ist sie genauso gut wie die Stoffmaske. Deswegen: Wenn man nicht einer ganz, ganz besonderen Risikogruppe angehört, klassischer medizinischer Mund-Nasen-Schutz!
Wie ist die Situation auf den Intensivstationen des Universitätsklinikums?
Im Moment haben wir in Marburg eine stabile Situation auf den Intensivstationen. Viel mehr Corona-Patienten liegen allerdings in Gießen, aus verschiedensten lokalen und regionalen Gründen. Allerdings sind dies nur Momentaufnahmen und wir müssen abwarten, wie es sich in den nächsten Wochen entwickelt. Trotzdem: Das medizinische Personal leistet Enormes, und das jetzt schon über einen langen Zeitraum. Und nicht nur für Corona, sondern auch für alle anderen Patienten, um die wir uns ja auch noch kümmern. Großes Kompliment an die Mannschaft!