"Leben zerstört": Messerangriffs-Opfer im Lübcke-Prozess
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Der Hauptangeklagte Stephan Ernst (M) wird in den Verhandlungssaal geführt.
© Quelle: Boris Roessler/dpa-Pool/dpa
Frankfurt/Main. Am 25. Verhandlungstag im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bekam am Donnerstag das wohl erste Opfer des mutmaßlichen Täters das Wort. Der auch als Nebenkläger auftretende Iraker Ahmed I. sagte am Donnerstag als Zeuge zu dem an ihm verübten Messerangriff aus. Die Tat wird dem 47 Jahre alten Deutschen Stephan Ernst vorgeworfen, der den CDU-Politiker Lübcke im Juni 2019 getötet haben soll.
Bereits im Januar 2016 soll es zu dem schweren Angriff auf den damals 22 Jahre alten Ahmed I. gekommen sein. Der heute 27-Jährige, ein schmaler Mann mit modischer Frisur, wirkt zunächst ruhig und gefasst. Die Folgen der Tat spürt er allerdings noch heute. "Das hat mein Leben zerstört", sagte er vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt, als er den Tatabend schilderte. Es sei schon dunkel gewesen, als er nach 21.00 Uhr die Flüchtlingsunterkunft im nordhessischen Lohfelden verließ, um Zigaretten kaufen zu gehen - also jene Flüchtlingsunterkunft, für deren Bau sich Lübcke auf einer Bürgerversammlung im Jahr 2015 eingesetzt hatte.
Doch I. kam an jenem Januarabend nie an der Tankstelle an, wie er dem Gericht mit Hilfe eines Dolmetschers berichtete. Er habe einen Radfahrer bemerkt, der von hinten kam, und sei zur Seite getreten, um Platz zu machen. Er habe noch einen Stoß in den Rücken gespürt und sei, vermutlich von der Wucht dieses Stoßes, zu Boden gefallen. "Ich dachte, jemand hat mich mit einem Stock geschlagen", schilderte I. den Vorfall. Als er wieder aufstehen wollte, habe eines seiner Beine nicht mehr funktioniert, dann entdeckte er Blut. "Da war kein Mensch da, der mir helfen konnte."
Der Verletzte kroch auf die Straße, wo zunächst niemand stoppte, bis schließlich ein Helfer angehalten und ihn auf den Bürgersteig gebracht habe. Zu diesem Zeitpunkt habe er starke Schmerzen gehabt: "Ich dachte, ich sterbe."
Bereits an einem der vorangegangenen Verhandlungstage hatte ein Rechtsmediziner berichtet, dass der Stich I. nur unweit wichtiger Arterien getroffen habe. Eine Verletzung dort hätte in kurzer Zeit zum Tod führen können.
Doch auch so dauern für I. die Folgen der Verletzung bis heute an, wie er vor Gericht sagte. "Ein Bein ist sehr schwach, das andere kann ich kaum fühlen bis zum Bauch." Drei Wirbel seien geschädigt. I. nimmt Schmerzmittel und Antidepressiva, kann nicht schlafen, hat Angstzustände und ist auch vier Jahre nach der Tat regelmäßig in ärztlicher Behandlung. "Ich habe mein Land verlassen, um Schutz zu finden - aber hier ist mein Leben zerstört worden."
Bei der Aussage des Irakers blickte Ernst mit unbewegtem Gesicht nach vorne. Der wegen Beihilfe im Mordfall Lübcke angeklagte Markus H. dagegen grinste, wie schon mehrfach in dem Verfahren, bis es dem Vertreter der Bundesanwaltschaft reichte. Er bitte H., dieses unpassende Verhalten zu unterlassen, forderte der sichtlich verärgerte Anklagevertreter. "Entweder er geht - oder ich", zeigte sich auch I. irritiert und genervt.
Als Zeuge zum Tatverlauf blieb I. an vielen Stellen vage. "Daran erinnere ich mich nicht", sagte er immer wieder, wenn er mit den Aussagen konfrontiert wurde, die er im Krankenhaus den Polizisten gemacht hatte. Damals beschrieb er seinen Angreifer als blonden Mann mit hellen Augen - während er vor Gericht sagte, er habe den Radfahrer nur von hinten gesehen. Auch ob er zusätzlich noch getreten worden sei, ließ sich nicht mehr klären. Möglicherweise kamen Übersetzungsprobleme hinzu - die Dolmetscherin bei der Vernehmung habe ein Arabisch gesprochen, das er nicht gut verstanden habe, sagte I., der mit dem Gerichtsdolmetscher vor allem Kurdisch sprach.
Ernst hatte in seiner Einlassung vor Gericht im Sommer angegeben, er habe nichts mit dem Angriff auf I. zu tun. Ein in seinem Haus beschlagnahmtes Messer hatte geringe DNA-Spuren aufgewiesen, die ein Sachverständiger in einem kürzlich vorgestellten Gutachten I. nicht eindeutig zuordnen konnte. Sie enthielten allerdings Merkmale, die unter Mitteleuropäern sehr selten, im Irak aber häufiger seien.
Bei einer Pressekonferenz nach der Verhandlung klagte I. über die Behandlung durch die Polizei nach der Tat. "Ich habe mich gefühlt, als wäre ich der Täter und nicht das Opfer", sagte er. Niemand habe ihm geglaubt, er sei von einem Nazi angegriffen worden, so I. Er solle sagen, mit wem er Probleme habe, habe die Polizei nach einem Motiv in seinem Umfeld gefragt.
Vor Gericht hatte I. zuvor ausgesagt, im Flüchtlingslager habe es geheißen "wir sollen aufpassen" und dass Nazis "aktiv" wären. Die Tat im Januar 2016 habe in gewisser Weise sein Leben beendet, betonte er. Er lebe in Angst vor einem neuen Angriff. "Man stirbt nicht nur, wenn man tot ist. Man kann auch leben und innerlich tot sein."
dpa