Viele Gerüchte rankten sich um Paul Thomas Andersons lang erwarteten Film „The Master“. Von einem Scientology-Drama war die Rede, davon, dass Anderson das Leben des Sektengründers L. Ron Hubbard verfilmt hat. Der Produzent Harvey Weinstein soll von der Sekte bedroht worden sein, woraufhin er sich zurückzog und Annapurna Pictures die Finanzierung übernahm. Und auch Tom Cruise spielte im Vorfeld eine Rolle, Hollywoodstar und ranghoher Scientologe.
Mit Cruise ist Anderson befreundet, ihm zeigte er vorab seinen Film. Hatte der Schauspieler etwas auszusetzen? Gab es Kritik? Cruise und er seien weiterhin befreundet, ließ Regisseur Anderson wissen, als er bei den Filmfestspielen in Venedig im Vorjahr seinen Film vorstellte. Jetzt kommt „The Master“ in die Kinos – aber wir sehen keine Hubbard-Biografie und auch keine kritische Auseinandersetzung mit Scientology.
In faszinierenden Siebzig-Millimeter-Bildern zeigt die Kamera in der Eingangssequenz das Blau des Pazifiks, zoomt an den Strand und konzentriert sich auf eine Gruppe junger Soldaten. Unter ihnen ist der Marine Freddie Quill, der betrunken eine aus Sand geformte Frau besteigt und in dessen verwilderte Seele wir in den nächsten 137 Kinominuten eintauchen. Freddie ist ein unberechenbarer, jähzorniger Alkoholiker, dem der Krieg den Rest gegeben hat. Die Navy entlässt ihn 1950, im zivilen Leben findet sich der Außenseiter nicht zurecht. Freddie ist ein rastloser Herumtreiber, ohne Perspektiven. Nichts kriegt er auf die Reihe. Nur vom Schnapsbrauen versteht er was.
Durch Zufall landet Freddie auf dem Schiff des charismatischen Lancester Dodd. Der Mann ist intelligent, belesen, selbstbewusst und wird von allen der „Meister“ gerufen. Der selbst ernannte Philosoph hat eine Glaubensgemeinschaft gegründet, „The Cause“ (Der Ursprung), die eine neue Technik der Hypnose und des Persönlichkeitstests propagiert. Dodd versucht, seinen Anhängern böse Erinnerungen und Prägungen auszutreiben. Freddie ist zunächst argwöhnisch, lässt sich aber schnell auf ein Psychospiel ein, bei dem es Dodd gelingt, dem verschlossenen Mann einiges aus seinen Jugendjahren zu entlocken.Tatsächlich ist dieses Frage-Antwort-Muster – wie Anderson zu Protokoll gibt – von Hubbard inspiriert, letztlich aber auf jeden religiösen Kult übertragbar.
Mit der Begegnung dieser unterschiedlichen Typen beginnt eine abenteuerliche Amour fou, präsentiert von zwei der besten Schauspieler: Joaquin Phoenix spielt mit vollem Körpereinsatz, angewinkelten Ellenbogen und gespaltener Lippe den Sinnsucher, Philip Seymour Hoffman ist der Meister, ein Scharlatan, hinter dessen freundlicher Fassade Paranoia und Bedürftigkeit lauern. Beide liefern eine großartige Performance ab. Man kann davon ausgehen, dass sie bei den Oscars am Sonntag abräumen werden.
Der Mentor und sein Protegé also, zwei, die sich anziehen und abstoßen, aber lange Zeit nicht ohneeinander können. Wieder einmal zeigt Anderson, dass er in einer eigenen Liga spielt, obwohl „The Master“ doch nicht das lang ersehnte Meisterwerk nach „There Will Be Blood“ ist. Zuweilen zerfranst das Duell der beiden, hält Anderson die Spannung nicht. Trotzdem: Ausstattung, Musik und Kamera sind grandios. Am Ende hat der Regisseur eine wunderbare, höchst sinnliche Alternative für alle Sinnsucher der Welt zu bieten, unabhängig von selbst ernannten Propheten.
Viel besser als ein Scientology-Porträt: Großes Schauspielerkino. Kino am Raschplatz.