Heute ist der Welttag der Poesie. Im Jahr 2000 wurde er von der Unesco ausgerufen, um dem Bedeutungsverlust der Poesie entgegenzutreten. So recht geholfen hat dieser Welttag der Poesie bislang nicht. Erschienen im 19. Jahrhundert allein im deutschsprachigen Raum rund 20 000 Lyriksammlungen, so ist die Dichtkunst heute auf dem Buchmarkt nahezu komplett untergegangen: Laut dem deutschen Online-Portal Statista lag der Umsatzanteil von Lyrik und Dramatik im deutschen Buchhandel im Jahr 2020 bei nur rund 1,4 Prozent des Gesamtumsatzes der Warengruppe Belletristik. Kurzum: Die Deutschen lesen Romane und keine Gedichte.
Und doch gibt es immer noch Menschen, die gegen den Strom schwimmen – auch in Marburg. Ludwig Legge (86) etwa. Der Vorsitzende der Neuen Literarischen Gesellschaft ist Dichter. Der Schauspieler Jürgen Helmut Keuchel (66) und die Studentin Michelle Völlger (21) schreiben Gedichte. Drei Generationen, drei Stile. Ludwig Legge schreibt surreale Lyrik, Jürgen Helmut Keuchel mag es satirisch und Michelle Völlger romantisch.
„Poesie ist ein verlorenes Geschäft“
Sie alle aber wissen: Mit Lyrik wird man nicht reich. „Poesie ist ein verlorenes Geschäft“, sagt Legge. Aber man kann mit Lyrik bekannt, ja sogar berühmt werden: Rainer Maria Rilke wird noch heute angebetet. Kurt Tucholsky, Robert Gernhardt und der US-Amerikaner Walt Whitman werden verehrt. Durs Grünbein, der Marburger Literaturpreisträger des Jahres 1992, erhielt für seine Gedichte 1995 auch den Georg-Büchner-Preis. Mehr geht in Deutschland eigentlich nicht. Und der Schwede Tomas Tranströmer wurde 2011 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Gleiches gilt für den Singer-Songwriter Bob Dylan, der 2016 den Literaturnobelpreis erhielt – zum Entsetzen der weltweiten Literaturszene. Ein Musiker? Und dann diesen Preis.
Ein Gedicht von Ludwig Legge
Am Flughafen weise ich mich aus
mit meinem letzten Gedicht
das Sicherheitspersonal prüft
ob es auf der Fahndungsliste steht
ob es sich um einen Geheimcode handle
mein Flug wird annulliert
aber mein Gedicht ist schon abgeflogen
Sind heute Musiker die letzten Dichter? „Ganz so weit würde ich jetzt nicht gehen“, sagt Legge, der seit den 1970er-Jahren „ernsthaft und bewusst Lyrik schreibt“ und bislang acht Gedichtbände veröffentlicht hat, von denen einige ins Russische und ins Georgische übersetzt wurden. „Auch Schlager können Poesie sein, ob gut oder schlecht, sei mal dahingestellt.“
Was macht Gedichte aus? „Gedichte sind ein Ausdrucksmittel, das verlangt, dass man sich konzentriert, dass man komprimiert. Anders als im Roman kommt es auf das einzelne Wort an“, sagt Legge und ergänzt: „Gedichte sind ein Mittel gegen die Geschwätzigkeit.“
Jürgen Helmut Keuchel (66) ist eine Generation jünger. Seit 1990 ist er Teil des Marburger Landestheater-Ensembles. „Ich habe spät damit angefangen, Gedichte zu schreiben“, sagt er. Er nennt das Jahr 1997. „Ich habe vorher auch schon was geschrieben, aber das konnte man in der Pfeife rauchen.“ Dichter sind ihren Arbeiten gegenüber besonders kritisch – vermutlich, weil es, wie Legge sagt, auf jedes einzelne Wort ankommt.
Gedicht von Jürgen Helmut Keuchel
Ich hab Essen gekocht für alle
Also, die ich mag in jedem Falle
Man darf Völlen, nicht nur Kosten
Spezialität aus dem Nordosten
Natürlich Kartoffeln, nicht Nudeln
Die täten’s versauen, verhudeln
Und Zwiebelsoße mit Lungenwurst
Natürlich ein Bier für den Durst
Für den Kerl ohne Ellenbogen
Den Hobbypsychologen
Den Sohn meines Vaters
’nen Mann des Theaters
Und den Schwiegersohne
der meistens nicht ohne
Also unterm Strich
Die alle bin ich.
Bis 2019 leitete Keuchel die „Marburger Lyrikkompanie“, mit der er an der Seite von Carsten Beckmann, Peter Rollenske und weiteren wechselnden Ensemblemitgliedern aus den Reihen des Hessischen Landestheaters Gedichte unters Volk brachte – von Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Erich Kästner, Robert Gernhardt, Heinz Erhardt – und natürlich eigene. „Ich mag satirische Gedichte“, sagt er. Warum? „Die Deutschen sind so ernst.“ Zuletzt hatte er am Landestheater ein großes Programm mit seinen „Schneckenweisheiten“, die am Landestheater auch gedruckt erhältlich sind.
Michelle Völlger ist 21 Jahre jung und in Mannheim aufgewachsen. Das Studium hat sie nach Marburg verschlagen, sie studiert Archäologie an der Marburger Philipps-Universität und hat sich „sofort in Marburg verliebt“. Unter dem Titel „Abendspaziergang“ hat sie gerade ihren ersten Gedichtband herausgebracht. Im Selbstverlag, denn große Verlage winken bei Gedichten ab. Unverkäuflich. Leider.
Gedicht von Michelle Völlger
Nach dem Regen
Marburg im Dunst,
wabernder Nebel –
die letzten Tage viel Regen.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang
der Himmel reißt auf.
Das goldene Licht,
zart streichelt es
die Dächer der Oberstadt.
Darüber das Schloss
unwirklich fast,
so schön wie im Traum
und doch –
es ist echt.
Seit 2017 schreibe sie Gedichte, so richtig aber erst, seit sie in Marburg lebe, sagt sie. Wenn sie heute durch die Stadt geht, hat sie immer ein Notizbuch dabei. „Ich verarbeite in den Gedichten meine Eindrücke. Beim Spazierengehen fallen mir Zeilen ein, nach und nach entstehen daraus die Gedichte. Es ist ein spontaner Prozess“, sagt sie und ergänzt: „Ich mag kurze Texte, sie haben eine Leichtigkeit.“
Ludwig Legge: „Wörtlich betäubt“, 55 Seiten, 9,50 Euro, erhältlich in der Buchhandlung Jacobi.
Michelle Völlger: „Abendspaziergang“, 31 Seiten, 10 Euro, erhältlich im Buchladen Roter Stern.
Jürgen Helmut Keuchel: „Schneckenweisheiten“, 8 Euro, erhältlich im Hessischen Landestheater.
Von Uwe Badouin